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Gutes von gestern – eine Performance mit Demenz

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Gutes von gestern – eine Performance mit Demenz

Ein Gespräch über Gedächtnisschwäche, das Quiz des Lebens und ein nächstes Mal

Eine ungewöhnliche Performance, die unter die Haut geht: Acht Seniorinnen und Senioren mit Demenzerkrankung zwischen 72 und 84 Jahren bitten je einen Zuschauer oder eine Zuschauerin zu sich an den Tisch und erzählen aus ihrem Leben – von Auftritten als Faschingsprinzessin, vom Auswandern nach Kanada oder einer bevorstehenden Hochzeit… Gutes von gestern nannte das Theaterkollektiv What you see is what you get ihre „Performance mit Oma und Opa“. Die Premiere und fünf weitere Aufführungen fanden im September 2014 im Hof und Speisesaal des Residenzia Seniorenzentrums statt. Das gesamte Projekt wurde von Felix Kruis (30) filmisch dokumentiert und kann damit einem größeren Publikumskreis vorgestellt werden. Der Film (Fertigstellung voraussichtlich Mitte 2015) macht die Ambivalenz von Vermögen und Unvermögen von Demenzkranken sowie das Gesicht dieser Krankheit mit ihren vielen Facetten deutlich sichtbar. „Kultur inklusive!“ sprach mit Julia Müller (28) die zusammen mit Natascha Simons (25) und Tobias Böhnke (28) die künstlerische Leitung des Theaterprojekts übernommen hat.

 

Kultur inklusive!: Mit Demenzkranken eine Theaterperformance einstudieren – das klingt sehr ungewöhnlich, wenn nicht sogar unmöglich. In dem Projekt Gutes von gestern haben Sie aber genau das gemacht. Wie kamen Sie auf die Idee?

 

Julia Müller: Inspiriert hat uns das Bild von alten Menschen, die oft allein an einem Tisch sitzen – in einem Café oder eben im Speisesaal eines Seniorenheims. Jeder hat das doch schon mal gesehen. Wir stellten uns vor, dass jeder von ihnen sicher einiges erlebt hat und viele Geschichten erzählen könnte…

 

…wenn es ein Gegenüber gäbe, das zuhört.

J. M.: Genau. So entstand die Idee zu Gutes von gestern. Wir wählen für unsere Projekte immer ungewöhnliche Schauplätze wie zum Beispiel Technoclubs aus.  Aber dieses Mal sollten eben keine professionellen Schauspielerinnern und Schauspieler, sondern Bewohnerinnen und Bewohner eines Seniorenheims die Hauptrollen spielen. Dafür mussten wir ja erst einmal eine Einrichtung von unserer Idee begeistern. Wir haben viele angeschrieben und schließlich mit dem Residenzia in München-Sendling einen Volltreffer gelandet.

 

Das Residenzia ist ein Seniorenzentrum mit sozialtherapeutischem Langzeitbereich für psychisch Erkrankte. Waren auch Menschen mit anderen Erkrankungen als Demenz beteiligt?

J. M.: Wir wollten keine Krankenakten einsehen, sondern den Menschen so unvoreingenommen wie möglich begegnen. Vor Beginn der Probenzeit haben wir ein einwöchiges Praktikum im Haus gemacht. So konnten wir einen ersten Kontakt zu den Seniorinnen und Senioren aufnehmen. Ihre jeweiligen Fähigkeiten und Einschränkungen sowie ihre besonderen Charakterzüge lernten wir erst im Laufe der Probenzeit besser kennen. Schließlich bauen viele Demenzkranke eine Fassade auf, um ihrem Umfeld Normalität zu vermitteln.

 

Gab es ein Casting?

J. M.: Nicht direkt. Wir sind auf die Seniorinnen und Senioren, die uns teilweise von den Betreuern vorgeschlagen wurden, direkt zugegangen. Schließlich hat sich eine Kerngruppe von acht Teilnehmerinnen und Teilnehmern zusammengefunden. Ich muss zugeben, dass die meisten wahrscheinlich nicht genau wussten, was da auf sie zukommt. Dann fingen Natascha Simons, Tobias Böhnke und ich mit den Einzelproben an – insgesamt zweieinhalb Monate, fünf Mal die Woche. Und schon nach ein paar Terminen merkte man, dass die Theaterarbeit nicht nur eine willkommene Abwechslung vom Heimalltag war, sondern auch Spaß machte. Den Beteiligten gefiel es sich aktiv einzubringen und kreativ zu sein.

 

Wussten Sie zu Beginn der Probenzeit schon, was genau der Zuschauer zu sehen bekommen sollte?

J. M.: Klar war, dass wir das Bild der einsam am Tisch Sitzenden im Speisesaal reinszenieren wollten. Auch die Konstellation von jeweils einem Zuschauer und einem Akteur, der bei Kaffee und Kuchen etwas aus seinem Leben erzählt, kristallisierte sich bald heraus. Zunächst gab es dann Treffen in der Gruppe, in denen wir verschiedene Sprech- und Körperübungen gemacht haben. Dann haben wir mit den Einzelproben begonnen – und wurden spätestens da mit den unterschiedlichsten Herausforderungen konfrontiert.

 

Sie meinen vermutlich die Gedächtnisschwäche der Demenzpatienten?

J. M.: Auch. Aber es wurden weniger die Texte mit den biografischen Details vergessen, sondern vor allem der dramaturgische Ablauf – und das noch ein paar Tage vor der Premiere. Es fiel vielen einfach schwer sich vorzustellen, dass im Ernstfall nicht wir – die inzwischen Vertrauten – bei ihnen am Tisch sitzen, sondern fremde Menschen. Es war schon anstrengend, jedes Mal aufs Neue zu erklären, dass wir gerade gemeinsam auf das Ziel einer Aufführung hinarbeiten. Andererseits waren wir oft überrascht, was für eine ungeheure Präsenz und wie viel kreatives Potenzial manche entfalten konnten. Für uns war es eine intensive Erfahrung, die Menschen unter ihrer Oberfläche kennenzulernen.

(…)

 

Interview für Broschüre „Kultur inklusive II“ (2015, Hrsg. Bezirk Oberbayern, Redaktion und Texte: u-text)

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