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Berührungspunkt Kunst

Kultur inklusive! Ausgabe 1 - 2013

Berührungspunkt Kunst

Inklusion ist Programm in der Galerie Bezirk Oberbayern

„Kunst inklusive!“ – unter diesem Motto hat die Galerie Bezirk Oberbayern ihr Konzept neu ausgerichtet. Zwar präsentiert der 1998 eröffnete Ausstellungsraum im Foyer der Münchner Bezirksverwaltung schon seit 2003 regelmäßig – zunächst als „integrativ“ bezeichnete – Kunst von und für Menschen mit Behinderung. Seit 2012 ist es jetzt jedoch amtlich: Inklusion ist Programm. Was das konkret bedeutet, zeigte etwa die viel beachtete Ausstellung „himmelgrau.“ (3. Mai bis 28. September 2012) mit Werken zum Thema Depression. Daran beteiligt: von der Volkskrankheit Depression betroffene, aber auch nicht-betroffene Künstlerinnen und Künstlern. Die Schau war ein voller Erfolg. Das gibt den Verantwortlichen Rückenwind und bestärkt sie auf dem eingeschlagenen Weg weiterzugehen. Also bringt die Galerie Bezirk Oberbayern in zwei der vier jährlichen Ausstellungen ab sofort Künstler mit und ohne Behinderung zusammen. Außerdem gibt es nun im Begleitprogramm zu jeder Ausstellung spezielle Angebote, die Menschen mit und ohne Behinderung gleichermaßen ansprechen: Zum Beispiel Tastführungen, bei denen das Anfassen der Kunstwerke erlaubt, ja sogar ausdrücklich erwünscht ist.

 

Berührende Entdeckungen

Diese hautnahe Art des Kunstgenusses feierte Premiere bei der Ausstellung „Berührt“ mit Skulpturen von Andreas Kuhnlein (20. November bis 12. Dezember 2012). In Hinblick auf den inklusiven Ansatz fertigte der renommierte Bildhauer speziell für dieses Ausstellungsprojekt die Installation „Konferenz der Tiere“ und verzichtete dabei sogar auf seine typische Arbeits- und Ausdrucksweise. Ausnahmsweise zügelte er sein bevorzugtes Werkzeug, die Motorsäge, und fräste keine tiefen Kerben und Schnitte in das Holz. Das Ergebnis: Die zwölf auf einen Tisch montierten Tierköpfe sowie der auf der Tischmitte platzierte vergoldete Embryo haben eine relativ glatte, unverletzte Oberfläche. Anatomische Formen und typische Merkmale wie Rüssel, Schlappohren und Kamm sind naturgetreu widergegeben und können daher von den Tastenden relativ leicht identifiziert werden. Besonders viel Spaß beim Erkennen von Elefant, Hund, Hahn und Co. hatten unter anderem die Schülerinnen und Schüler der Edith-Stein-Schule im Sehbehinderten- und Blinden-Zentrum (SBZ) in Unterschleißheim. In Begleitung der Kunsthistorikerin und Sozialpädagogin Ruth Lobenhofer gingen die blinden und stark sehbehinderten Kinder auf Entdeckungstour. Wie fühlt sich Holz an? Wie schwer ist die Kette einer Motorsäge? Und wem gehört die Steckdosen-Nase? Tastend, fühlend, berührend näherten sich die Sechstklässler der Kunst des Andreas Kuhnlein und seiner Sicht auf die Welt.

 

Sehen mit Fingerspitzengefühl

Auch Gregor C. kann nicht sehen – zumindest nicht mit seinen Augen. Sein Fingerspitzengefühl scheint den fehlenden Sehsinn jedoch fast vollständig zu kompensieren. Bei einer Tastführung, an der blinde und sehende Erwachsene teilnahmen, zeigte er sich als Meister im Erfühlen – und zwar nicht nur, wenn es um das Erkennen des Dargestellten geht, sondern auch um das Erfühlen seelischer Zustände. Eindrucksvoll war dieser Moment:
Gerade hat sich Gregor C. einer der sieben menschlichen Figuren aus Holz zugewandt, die in der Ausstellung „Berührt“ neben der „Konferenz der Tiere“ zu sehen sind. Die Herausforderung – für Sehende mit Schlafbrille übrigens eine fast nicht zu überwindende – besteht darin, nicht an den spitzen Zacken der für Kuhnlein-Skulpturen so typischen zerklüfteten Oberfläche „hängenzubleiben“. Doch Gregor C. weiß, wie er vorgehen muss. Er streicht nicht mit den Fingerspitzen, sondern mit beiden Handflächen über den Kopf der Figur und kann so erkennen: „Die Figur schaut nach unten, als ob sie Goldfische in einem Glas beobachtet.“ Ein fein gearbeitetes Gesicht, gescheiteltes Haar – klarer Fall: eine Frau. Zudem handelt es sich wohl um eine gefestigte Person, das hat Gregor C. an der Haltung der Schultern ertastet. Als er schließlich den Gegenstand in den Händen der Figur als Spiegel identifiziert, beantwortet das auch die Frage nach der Aussage des Werkes: „Das Selbstbildnis…die Selbsterkenntnis.“ Wie treffend diese Beobachtung ist, zeigt ein Blick auf den Titel der Skulptur: Kuhnlein hat sie „Einsicht“ genannt.

 

Kunst inklusive!

Die „Normalsichtigen“, die sich beim Ertasten sichtlich abmühen, staunen nicht schlecht über das „Seh-Vermögen“ der Blinden. Florian F. beispielsweise – mit Hilfe einer Schlafbrille temporär erblindet – muss sich erst an die neue Gewichtung seiner Sinne gewöhnen: „Etwas zu ertasten ohne abgespeicherte Vergleichsbilder in meinem Kopf zu haben, das stelle ich mir schwer vor. Wie das funktioniert, erklärt die von Geburt an blinde Melanie E.: „Beim Erkennen helfen mir charakteristische Details wie Hörner oder große Nasenlöcher, die ich früher bei echten oder ausgestopften Tieren schon einmal ertastet habe.“
Begleitprogramme wie die Tastführungen bieten jedoch mehr als hautnahen Kunstgenuss. Sie bringen Menschen ins Gespräch, deren gemeinsame Welt oft durch die Barriere ihrer unterschiedlichen Wahrnehmung voneinander getrennt ist. Der Austausch über das Erleben der jeweils „anderen Seite“ schafft Berührungspunkte zwischen Menschen mit und ohne Behinderung, die im Alltag wohl nie so entstanden wären. Eine im wahrsten Sinne des Wortes „berührende“ Ausstellung – Kunst inklusive!

 

Text für Broschüre „Kultur inklusive I“ (2013, Hrsg. Bezirk Oberbayern, Redaktion und Texte: u-text)

Der Text im Bild