Die finnische Seele tanzt Tango
Die finnische Seele tanzt Tango
„Eteen ... yhteen ... sivulle ... taakse“, mit diesen Worten führt Tanzlehrer Jorma Tulonen seine Partnerin über das Birkenparkett. Schritt für Schritt: vor, zusammen, seitlich, zurück. Elegant und kinderleicht sieht das aus. Die finnische Sommersonne wirft helle Abendstrahlen durch die Fenster in den „Helsinki Pavi“. Das gelb gestrichene Holzgebäude liegt rund 40 Autominuten außerhalb der finnischen Hauptstadt und ist einer der zahlreichen nostalgisch anmutenden Tanzböden, wie sie im Land der tausend Seen – von der Schärenküste bis Lappland – überall zu finden sind.
Im „Pavi“ beginnt der Abend pünktlich um 19 Uhr mit einem „tanssikurssi“. Wer möchte, hat nun 50 Minuten Zeit, um die Grundschritte des Tango Argentino zu lernen oder Erlerntes aufzufrischen. Der Parkplatz im lichten Kiefernwäldchen füllt sich noch bis zum offiziellen Beginn um 20 Uhr. Den Autos entsteigen Frauen und Männer – zu zweit, aber auch allein. Sie sind überwiegend leger gekleidet. Neben Freizeithosen und krawattenlosen Hemden sieht man jedoch auch weiße Anzüge mit Lackschuhen und knielange Kleider mit Ausschnitt. Manch einer, der das Kassenhäuschen passiert hat, wechselt an der Garderobe noch schnell die Schuhe oder stärkt sich mit einem belegten Roggenbrot und einer Tasse Kaffee. Eine entgegen gestreckte Hand begleitet von einem kurzen Nicken – Miriam Krieg wird gerade von einem Mittdreißiger aufgefordert. Die Studentin aus Freiburg hat erst vor wenigen Tagen ein Praktikum beim Goethe-Institut in Helsinki begonnen. „Vasen jalka eteen“, ruft Jorma Tulonen, und die Männer setzen ihren linken Fuß nach vorne. Für die Frauen gilt: „Oikea jalka taakse“, den rechten Fuß nach hinten. Miriam, die – wie die meisten Nicht-Finnen – die schwer erlernbare Landessprache nicht spricht, wirft einen Blick auf die Füße der anderen Tanzenden. Sie nimmt Haltung an und bewegt sich schon bald anmutig übers Parkett – soweit es ihr Tanzpartner, offensichtlich ein Tango-Anfänger, zulässt. Sie konzentrieren sich ausschließlich auf das Zusammenspiel ihrer Schritte. Auch auf den Gesichtern der übrigen Tänzer liegt eine tiefe Ernsthaftigkeit: Eins ist dem Betrachter sofort klar: Hier geht es nicht um Spaß, sondern um den Tanz an sich.
Noch spielen die Musiker auf der Bühne allein. Von ihren Kolleginnen aber weiß Miriam, dass sich für diesen Abend ein echter Star angesagt hat: Reijo Taipale. Das Lied „Satumaa“, zu Deutsch „Märchenland“, verschaffte dem ehemaligen Waldarbeiter 1962 seinen Durchbruch als Sänger. Mit „Satumaa“ erreichte das Tangofieber, das in Finnland eine nach der Leidenszeit des Zweiten Weltkriegs einen Aufschwung genommen hatte, einen fulminanten Höhepunkt. Zuvor, am Anfang des 20. Jahrhunderts, hatte der argentinische Tango die Tanzflächen der europäischen Großstädte erobert. In Finnland bildete sich jedoch bald eine ganz eigene Variante heraus. Komponisten wie Toivo Kärki orientierten sich zunächst an der argentinischen Urform und versetzten sie nach und nach mit Elementen russischer Romanzen und deutscher Marschrhythmen. Die dazugehörigen Texte bewegen sich – passend zu den Moll-Tönen – in einem melancholischen Spektrum zwischen Liebe und Traurigkeit. Reijo Taipale sehnt sich in „Satumaa“ nach einem sorgenfreien Traumland jenseits des Meeres. Diese gesungene Paradieses-Sehnsucht scheint den Nerv der Volksseele zu treffen. Das Lied gilt jedenfalls als heimliche Hymne der Finnen. Der international bekannte Filmemacher Aki Kaurismäki soll einmal vom „Blues der Finnen“ gesprochen und gesagt haben: „Der Tango ist nun mal unsere Nationalmusik”.
Auf der Tanzfläche des Pavi wechselt der Tango inzwischen über zu anderen Rhythmen: Polka, Foxtrott und Walzer sowie den typisch finnischen Tänzen Humppa und Jenkka. Nach jedem zweiten Stück wechseln die Tanzpartner. Und das bedeutet, dass die in der Überzahl anwesenden und auf den flankierenden Sitzbänken wartenden Damen aufspringen und sich eilig zur Mitte der Tanzfläche bewegen. Wer nicht aufgefordert wird, verschiebt die Hoffnung einfach um weitere zwei Stücke – und nimmt wieder Platz. Nach einer kurzen Pause kommt die Live-Band wieder zurück auf die Bühne – und mit ihr Reijo Taipale. Ein kurzer Applaus brandet auf. Aber auch der Hauptprotagonist des finnischen Tangos bringt die Tanzenden nicht aus ihrer konzentrierten Ruhe. Auf Armlänge zur Bühne entfernt stehen auch einige finnische Roma. Die Frauen tragen ihre traditionellen Gewänder – ausladende, bodenlange Samtröcke und aufwändig bestickte Blusen – und kunstvoll arrangierte Frisuren. Mit glänzenden Augen singen sie beinahe jedes Lied begeistert mit. Ein kleines Mädchen, ebenfalls im Samtornat aufgeputzt, wirbelt mit ihrem Vater durch die anderen Tanzenden hindurch.
Draußen senkt sich langsam die Sonne. Drinnen stimmt Reijo Taipale schließlich, wie bei jedem seiner Auftritte, „Satumaa“ an und wünscht sich singend Flügel, um in das glückselige Land hinter dem Ozean fliegen zu können. Miriam steht am Rande der Tanzfläche und spürt, dass sie gerade einen Blick in die finnische Seele werfen darf.
Reisereportage, 2009